Nordrhein-Westfalen bekommt keinen zweiten Nationalpark. Der Bürgerentscheid im Kreis Kleve, den dortigen Reichswald mit dem höchsten Schutzstatus zu versehen, ist gescheitert
Nach vier Tagen langen Auszählens der Stimmzettel steht seit Sonntagnachmittag fest, 52,7 Prozent votieren gegen eine Nationalpark-Ausweisung. Damit dürfte auch ein Renommierprojekt der Grünen und ihres Landesumweltministers Oliver Krischer endgültig am Ende sein. Sie hatten 2022 in den Verhandlungen mit der CDU zur Bildung einer neuen Landesregierung im Koalitionsvertrag festschreiben lassen, NRW solle neben der Eifel einen zweiten Nationalpark erhalten. Die Landesregierung, allen voran Ministerpräsident Hendrik Wüst, hatte aber stets betont, sie werde keiner Region einen Nationalpark aufzwingen.
Sechs Gebiete waren in Düsseldorf als geeignet ausgemacht worden und standen zwischenzeitlich zur Diskussion. Doch überall winkten die zuständigen Kommunalparlamente dankend ab. Nach der politischen Entscheidung in den Kreistagen taten das auch die Wähler in den Kreisen Paderborn und Höxter mehrheitlich, als es dort in einem Bürgerentscheid um einen möglichen Nationalpark Egge ging. So blieb als letzte Chance der Reichswald. Er ist mit 51 Quadratkilometern das größte zusammenhängende Waldgebiet am Niederrhein und der größte zusammenhängende öffentliche Staatsforst in NRW. Sein heutiges Aussehen mit vielen Rotbuchen und Eichen erhielt er durch Aufforstungen nach dem Zweiten Weltkrieg.
Außergewöhnlich hoch ist nach Angaben des Kreises auch die Zahl brütender Greifvögel.
Formal ging es beim ausschließlich als Briefwahl organisierten Bürgerentscheid um die Frage „Soll sich der Kreis Kleve beim NRW-Umweltministerium um die Realisierung eines zweiten Nationalparks auf den Flächen des Reichswalds bewerben?“ Mangels verbliebener Alternativen aber hätte ein „Ja“ wohl zugleich die Zustimmung zum Zuschlag aus Düsseldorf bedeutet. Krischer hatte ursprünglich die Egge favorisiert, konnte dann aber auch dem Reichswald viel abgewinnen: „Wir haben viele Nationalparke im Mittelgebirge und in den Alpen, aber gerade in Nordwestdeutschland fehlt ein solcher Nationalpark.“
Befürworter der Nationalpark-Idee argumentieren mit dem Ziel, die Artenvielfalt verbessern zu wollen. So betonte Krischer: „Ohne eine intakte Natur, ohne ein wildes und lebendiges Nordrhein-Westfalen sind unsere Lebensgrundlagen gefährdet.“ Kritiker hingegen fürchten Einschränkungen für die örtliche Wirtschaft und Naherholungssuchende. Denn in einem Nationalpark darf bis auf wenige Ausnahmen keine Forstwirtschaft betrieben werden, Windräder dürfen nicht aufgestellt werden und für Wanderer, Radfahrer, Reiter und Jäger sind Einschränkungen möglich. Strittig ist, ob ein Nationalpark Motor des Tourismus ist oder ihn bremst.
Gleiche parteipolitische Fronten
Parteipolitisch verliefen die Fronten fast überall gleich: SPD und Grüne auf der Pro-Seite, gegenüber FDP und CDU, die im Kreis Kleve zudem vor möglichen Einschränkungen bei der Versorgung der Menschen mit Trinkwasser aus dem Reichswald warnten. Die Christdemokraten sahen sich dabei auch dem Vorwurf ausgesetzt, ihre ablehnende Haltung vor Ort sei ein Bruch des Koalitionsvertrages auf Landesebene. So hatte auch der Grünen-Landtagsabgeordneten Dr. Volkhard Wille argumentiert. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Stefan Rouenhoff hielt dem entgegen, der Kreis Kleve sei kein Notnagel für ein grünes Prestige-Projekt.
Dabei war dies noch eine milde Form der Auseinandersetzung um die Deutungshoheit. Auf beiden Seiten versuchten Interessengruppen, die Wähler höchst pointiert und auch polarisierend zu überzeugen. Da wuchs sich Engagement durchaus zu Polemik aus. Sachorientierung wich schierer Emotionalität. Wahlplakate wurden zerstört, der Gegenseite Lügen und niedere Motive sowie der Kreisverwaltung Manipulation der Ergebnisse unterstellt. Vollends eskalierte der Streit durch ein Video, das Willes Wahlkreisbüro-Leiter in den sozialen Medien veröffentlichte. Darin fordert er die Zuschauer zu Ja-Stimmen für das Schutzgebiet auf mit den Sätzen „Hey du, komm mal näher. Ich verrate dir, wie du ein paar alte weiße, sehr sehr reiche und korrupte Männer ganz schön ärgern kannst.“ Der Versuch von Ironie und Satire diente später als Entschuldigung bzw. Erläuterung für das Video.
Der anhaltende Streit trug zugleich zu einer hohen Mobilisierung der Wähler bei. Für einen positiven Bürgerentscheid hätten mindestens 15 Prozent der 265.000 Wahlberechtigten, also knapp 40.000, mit „Ja“ stimmen müssen und es hätten mehr sein müssen als die Nein-Stimmen. Am Ende gab es fast 116.000 abgegebene Stimmzettel. 41,8 Prozent der Stimmberechtigten gaben laut Kreisverwaltung eine gültige Stimme ab. Bei der jüngsten Europawahl gingen im Kreis Kleve rund 140.000 Menschen an die Wahlurne, bei der Stichwahl der Landratswahl im Jahr 2022 etwa 52.000 Menschen.
Das Thema Nationalpark dürfte nun in NRW endgültig vom Tisch sein. Aber Umweltminister Krischer hatte bereits vorausschauend erklärt, das Ziel, die biologische Vielfalt im Land zu schützen, wäre nicht gescheitert, nur weil es keinen zweiten Nationalpark gäbe. „Nationalparke sind eine von vielen Möglichkeiten, über die wir sprechen können“, sagt er. Alternativ könnte nun die Renaturierung von Mooren als Beitrag zum Arten- und Klimaschutz verstärkt werden. Das hatte bereits der Bund Deutscher Forstleute Nordrhein-Westfalen (BDF NRW) vorgeschlagen. Die Umwidmung des Reichswalds in einen Nationalpark hatten die Förster wohl auch eingedenk des möglichen Fortfalls gut dotierter Stellen für ihren Berufsstand abgelehnt. In Mooren hingegen gibt es kaum Forstwirtschaft. „Nordrhein-Westfalen verfügt im Vergleich zu anderen Bundesländern über kleinflächigere Moore, aber wir haben das Potenzial für mehr“, zitiert die Süddeutsche Zeitung Krischer.
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