Gedanken, Anmerkungen und Beobachtungen mit dem Blick aufs Land und zurück auf diese Woche
Liebe Leserinnen und Leser,
am Donnerstag wurde unser Grundgesetz 75 Jahre alt. Eigentlich für uns alle ein Anlass zum Feiern – zu einem einmaligen Feiertag aus diesem besonderen Anlass hat es nicht gereicht. Das Bewusstsein darüber, was unsere grundlegende Verfassungsordnung für jede Bürgerin und jeden Bürger mit den Säulen der Garantie von Demokratie, Rechtsstaat sowie der Freiheit und Gleichheit bedeutet, hat im politischen und privaten Alltag in der jüngeren Zeit schon ein Stück weit gelitten. Das zeigen die vielen gesellschaftlich breit aufgestellten Initiativen, die sich gerade in den letzten Monaten überall im Lande zusammengefunden und artikuliert haben. Und das aus Sorge um den Erhalt unserer Freiheitsrechte und auch aus Angst vor Ansätzen zu totalitären Machtansprüchen. Das Grundgesetz mit seinen einklagbaren Rechten war die grundlegende demokratische Antwort auf die Erlebnisse und Erfahrungen in der Zeit des Nationalsozialismus. Vielleicht hätte man angesichts aktueller politischer Diskussionen doch mehr aus diesem Geburtstag machen können, um das noch besser zu schützen, was wir haben.
Das Grundgesetz, das als Provisorium nach 1948 mit Beginn der Ost-Westteilung von der damaligen verfassungsgebenden Versammlung geschaffen wurde, müsste nach Ansicht vieler seit der Deutschen Einigung und mit guten Gründen eigentlich heute „Verfassung der Bundesrepublik Deutschland“ heißen. Vielleicht war es ein Versäumnis im Einigungsprozess 1989/90, den Text nicht gemäß der neuen deutschen Wirklichkeit neu zu formulieren. Der Begriff Grundgesetz steht in Verbindung mit der damaligen Gründung des „Weststaates“. Der Auftrag der einstigen Westmächte an die Ministerpräsidenten der Länder, durch eine verfassungsgebende Versammlung eine demokratische Verfassung ausarbeiten zu lassen, die Grundrechte garantiert und einen föderalen Staatsaufbau vorsieht – deshalb haben wir die starke Rolle der Länder.
In der Zustimmung Luft nach oben
Natürlich gehört zu diesem Geburtstag die passende Umfrage: So erkennen wir in Zahlen, dass dieses Land in Köpfen und Herzen noch längst nicht zusammengefunden hat. Laut den Demoskopen von Infratest Dimap ergibt sich eine Zustimmung zu unserem Geburtstagskind, dem Grundgesetz, von 70 Prozent in den östlichen Bundesländern und 78 in den westlichen. Da ist also noch unterschiedlich Luft nach oben.
Wenn schon in diesen Tagen gefeiert wird, so findet das im Wesentlichen in Berlin, der Hauptstadt, damit auch an der alten Nahtstelle zwischen Ost und West statt. Bis morgen gibt es dort auf Bühnen und in verschiedenen Veranstaltungsformaten im Regierungsviertel das Programm „Demokratie feiern“ mit „viel Musik, interessanten Talkrunden und spannenden Gästen“. Dazu kommen Feiern und ähnliche Formate im Geburtsort des Grundgesetzes, der Stadt Bonn. In den Ländern wird das Geburtstagsfest in unterschiedlicher Form in die Fläche gebracht. Deutlich ist zu beobachten, dass die Menschen mit diesem Ereignis sogar etwas fremdeln, weil die Eltern- und Großelterngenerationen insgesamt nun einmal an der Verfassungsgeburt nicht teilnahmen.
BMEL mit einer Präsentation auf dem Demokratiefest in Berlin
Inhalte der Verfassung werden dann im Alltag schon einmal vergessen. Dazu gehört das im Grundgesetz verankerte Staatsziel der „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“. Bei dieser Formulierung liegen der Gedanke und die Frage nahe, wie die Wirklichkeit in Stadt und Land sowie den verschiedenen Regionen aussieht.
Zu dem zentralen Geburtstagsfest auf den Bühnen zwischen Reichstag und Kanzleramt gehört übrigens auch der Auftritt des Bundeslandwirtschaftsministeriums (BMEL) unter dem Thema „Gutes Essen. Starkes Land. Zukunftsfeste Landwirtschaft“. Im Programm steht auch die akademische Frage „Was hat Tierschutz mit der Demokratie zu tun?“ Im Jahr 2002 wurde der Tierschutz als Staatsziel im Grundgesetz verankert. Die Ausgestaltung in der Praxis bleibt seitdem umstritten. Die Landwirtschaft und übrigens auch die Wissenschaft stehen dadurch unter wachsendem Druck im Bemühen, die Tierhaltung so zu gestalten, dass sie gesellschaftliche Akzeptanz behält. In meinem letzten Newsletter habe ich schon auf die aufkommende Debatte darüber verwiesen, die Ernährungssicherheit einzubeziehen. Sie nimmt Fahrt auf. Den Gedanken hat der Präsident des Deutschen Bauernverbandes (DBV), Joachim Rukwied, in einem Post auf X (ehemals Twitter) weiterführend aufgenommen: „Um den Wohlstand auch langfristig zu sichern, ist es auch notwendig, Ernährungssicherung als Staatsziel ins Grundgesetz aufzunehmen.“
Vielleicht doch einfach weiter Milch trinken?
Das Thema Ernährung beschäftigt uns natürlich immer wieder im Alltag und löst zuweilen auch Ängste aus. Früher habe ich gelernt, dass Milch trinken gesund sein soll, doch am letzten Sonntag schlägt mir in der zu diesem Tage speziellen „Bild“ die Schlagzeile entgegen „Wie gefährlich ist unsere Milch?“. Sie bezieht sich auf eine zitierte Feststellung der US-Gesundheitsbehörde FDA, wonach in 20 Prozent aller Milchproben Bestandteile des Vogelgrippe-Virus nachgewiesen worden seien. Der aus Corona-Zeiten bekannte Virologe Alexander Kekulé beruhigt dazu, dass durch das Pasteurisieren bei 70 Grad ein Virus zerlegt werde. Er würde sich aber langfristig nicht darauf verlassen, „weil Pasteurisieren speziell gegen bestimmte Bakterien und nicht gegen Viren gerichtet ist“. Und was machen wir kurzfristig? Vielleicht doch weiter Milch trinken und die nächste Alarmmeldung dieser Art abwarten?
Weiter Alarmmeldungen zu den Jagdgesetzen
Alarmmeldungen gibt es im ländlichen Raum immer wieder. In mehreren Bundesländern stehen zum Beispiel die Landesjagdgesetze in ihrer bisher bewährten Form zur Disposition. Aktuelles hören wir aus Brandenburg. Wer dachte, dass dort die Grünen vor der Europawahl auf neue Machtproben gegen den ländlichen Raum verzichten, hat sich wohl getäuscht. Umweltminister Axel Vogel will in Brandenburg ein Jagdrecht durchsetzen, das nicht nur bei der Jägerschaft und den kommunalen Spitzenverbänden, sondern auch beim Bauernverband und den Koalitionspartnern CDU und SPD auf heftige Kritik stößt. In der kommenden Woche ein Thema in unserem Blog bei „natur+mensch“.
Sogar Tierschützer bemängeln Vogels Plan, die Jagd auf Reh und Hirsch bis zum 31. Januar in die winterliche Notzeit zu verlängern. Raubwild und Raubzeug will der Diplom-Kaufmann hingegen durch Beschränkung der Fallenjagd besser schützen. Was das etwa für das ambitionierte Auerhahn-Projekt in der Lausitz bedeutet, ist klar. Und dem Minister offenbar ebenso egal wie die Schäden am Hochwasserschutz, den die Herausnahme von Nutria und Bisam aus dem Jagdrecht provoziert.
Wir sind gespannt, ob die rot-schwarz-grüne Landesregierung den Alleingang durchgehen lässt. Dirk-Henner Wellershoff, Präsident des Landesjagdverbandes Brandenburg: „Die Politik in Brandenburg muss sich nicht mehr wundern, wenn sich die Wählerschaft im ländlichen Raum von der Landesregierung distanziert und abwendet. Diese Verordnung ist ein Faustschlag in das Gesicht der engagierten und ehrenamtlich tätigen Jägerschaft sowie gegen den ländlichen Raum in Brandenburg.“
Kommen wir noch einmal zurück zum Geburtstag des Grundgesetzes. Dazu gehören vielleicht auch ein paar Altersweisheiten. Gerhart Baum und Franz Müntefering hatten bei Markus Lanz einen bemerkenswerten sozial-liberalen Auftritt im ZDF. Nach all dem, was sie mit aufgebaut haben, machen sie sich Sorgen über die Gräben in unserer Gesellschaft. In der ihm eigenen Art meinte Franz Müntefering: „Es gibt ganz viele, die haben eine Meinung, aber keine Ahnung.“ Und Gerhart Baum: „Wir müssen im Klima des Hasses abrüsten.“
Die bayerische SPD-Altvordere Renate Schmidt bleibt mit ihren Erkenntnissen eher im Alltag. Sie empfiehlt in der schon oben zitierten BamS den heute Regierenden, mehr die Menschen im Auge zu behalten, die Mieten wie etwa in München nicht aufbringen können, zum Arbeitsplatz dorthin aber pendeln müssen. Wer sich kein Elektroauto leisten könne und bei fehlenden öffentlichen Verkehrsmitteln mit seinem alten Verbrenner in die Stadt und zurückfahren müsse, fühle sich oft zu wenig angesprochen. Und sie sinniert: „…wenn wir vielleicht weniger diejenigen in den Großstädten im Auge hätten, sondern die Menschen, die versuchen, unser Land am Laufen zu halten.“ Da ist wohl was Wahres dran. Und dann lobt sie in dem Gespräch noch Wirtschaftsminister Habeck – „abgesehen von dem blöden Heizungsgesetz“. Das ist schon bemerkenswert.
Bleiben wir bei diesem zitierten und weiter umstrittenen Gesetz, gehen aber in den Norden der Republik. Dort wurde jetzt regional ausgerechnet, was das Heizungsgesetz in der praktischen Umsetzung kosten wird. Die Zeitungen des Schleswig-Holsteinischen Zeitungsverlages (SHZ) zitieren aus einem bisher unveröffentlichten Gutachten im Auftrag der (schwarz-grünen) Landesregierung. Danach werde allein in dem mit knapp drei Millionen Einwohnern relativ kleinen Bundesland für 837.000 Wohngebäude zur notwendigen energetischen Sanierung 96 bis 160 Milliarden Euro aufzubringen sein. Wenn man diese Prognose der dortigen „Arbeitsgemeinschaft für zeitgemäßes Bauen“ (Arge SH) auf Deutschland hochrechnet, müssen wir bei Schwindel erregenden Summen landen. Das können weder Private noch der Staat stemmen. Da hilft auch nicht der beschwichtigende Hinweis aus dem Kieler Innenministerium, dass die Studie noch unfertig sei.
Mit diesen vielleicht etwas grundlegenden Gedanken wünsche ich Ihnen ein sonniges und erholsames Wochenende. In diesem Sinne
Ihr
Jost Springensguth
Redaktionsleitung / Koordination
Comments