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Hugo Müller-Vogg

Gesellschaftlicher Zusammenhalt lässt sich nicht kaufen

Anders als rot-grüne Politiker behaupten, hängt gesellschaftlicher Zusammenhalt nicht von der Höhe der Sozialausgaben ab. Mindestens ebenso wichtig ist, dass Steuer- und Beitragszahler das Gefühl haben, sie würden fair behandelt – fairer als zurzeit


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Foto: Stephanie Hofschlaeger / pixelio.de

Als Fortschrittskoalition waren sie angetreten. Knapp drei Jahre später bilden SPD, Grüne und FDP ein Verteidigungsbündnis. Die Freien Demokraten präsentieren sich als die Kraft, die bei den Staatsfinanzen noch Schlimmeres verhindert. SPD und Grüne wiederum verteidigen Seit‘ an Seit‘ den immer stärker ausufernden Sozialstaat. Doch streiten sie nicht nur für mehr Geld für tatsächlich oder vermeintlich Bedürftige. Sie versuchen das auf eine höhere Ebene zu heben: Sie verteidigen den „gesellschaftlichen Zusammenhalt“.


Der Kanzler hat schon von Tag eins an die „You never walk alone“-Hymne angestimmt. Das soll ihn volkstümlich erscheinen lassen und den Menschen das wohlige Gefühl vermitteln, der gute Vater Staat nehme ihnen die größten Risiken und Bürden ab. Bei seiner Sommer-Pressekonferenz nannte er „technologische Modernisierung, Fortschritt, Wachstum und gesellschaftlichen Zusammenhalt" als die drängenden Aufgaben.


Der Begriff „Gesellschaftlicher Zusammenhalt“ fehlt auch in keiner Stellungnahme von rot-grünen Politikern, wenn sie die These vertreten, die Sozialausgaben müssten bei der Suche nach den fehlenden Milliarden im Bundeshaushalt 2025 tabu sein. Einsparungen dürften auf keinen Fall „zu Lasten des sozialen Zusammenhaltes" gehen, betonen die Grünen-Fraktionsvorsitzende Britta Haßelmann und ihr Vize Andreas Audretsch vor jedem Mikrofon und jeder Kamera. Das klingt so, als habe gesellschaftlicher Zusammenhalt ein Preisschild, als könne man das, was früher Solidarität genannt wurde, kaufen.


Mehr Sozialausgaben denn je


Wenn dem so wäre, müsste der gesellschaftliche Zusammenhalt bei uns Jahr für Jahr größer geworden sein. Denn die Summe aller Sozialausgaben steigt und steigt. 2023 erreichte sie mit 1,25 Billionen Euro einen neuen Höchststand. 2020 waren es 1,12 Billionen gewesen, im Jahr 2010 erst 0,77 Billionen. Damit entsprechen die Aufwendungen gut 30 Prozent der gesamtwirtschaftlichen Leistung. Wenn also 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Gesundheit, Renten oder die Grundsicherung ausgegeben werden, kann man dem Staat nicht vorwerfen, er lasse sich den gesellschaftlichen Zusammenhalt nichts kosten. Auch die Behauptung vom angeblichen „Kaputtsparen“ wird durch diese Zahlen widerlegt.


Nein, gesellschaftlicher Zusammenhalt lässt sich nicht kaufen. Natürlich wäre er gefährdet, wenn ein großer Teil der Bevölkerung in bitterer Armut verharren müsste. Davon kann in der Bundesrepublik keine Rede sein. Zu einem vernünftigen Miteinander der Menschen gehört freilich mehr als ein spendabler Staat. Eine freiheitliche Gesellschaft funktioniert nur dann, wenn jeder seinen Teil dazu beiträgt – materiell wie immateriell.


Die politische Mitte schrumpft


So zeichnete sich das politische Leben bei uns viele Jahrzehnte lang durch einen Konsens der wichtigsten Parteien aus – die Gemeinsamkeit der Demokraten. Für Union, SPD, FDP und später auch für die Grünen stand fest, dass mit Radikalen – linken wie rechten – kein Staat zu machen ist. Das führte dazu, dass von den Rändern keine Gefahr drohte. Doch die politische Mitte schrumpft.


Dazu hat in den 2000er-Jahren zunächst die Westausdehnung der ehemaligen SED beigetragen, ein Jahrzehnt später dann die in Teilen rechtsextreme AfD. Das neue „Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW)“ trägt das seine dazu bei, die politische Polarisierung zu verschärfen. Politisch ist der Zusammenhalt im Sinne einer demokratischen, pluralistischen Gesellschaft geringer als noch im ersten Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung. Das zeigt sich auch an der stark rückläufigen Bereitschaft zum politischen Engagement.


Ebenfalls zusammengehalten wird eine Gesellschaft durch das Engagement möglichst vieler Bürger in so unterschiedlichen Organisationen wie Kirchen oder Gewerkschaften, Sport- oder Musikvereinen, in bürgerschaftlichen Initiativen aller Art. Hier sieht es vielfach noch immer besser aus als im politischen Bereich. Doch ist die Bereitschaft, sich ehrenamtlich für die Gemeinschaft einzusetzen, überall rückläufig. Stark ansteigend ist hingegen die Tendenz zum negativen Engagement. Ganz selten streiten Bürgerinitiativen für ein positives Ziel, das sie sich gesetzt haben. In der Regel agieren solche, oft spontane Zusammenschlüsse gegen das, was demokratisch legitimierte Gremien beschlossen haben.


Es wird kräftig umverteilt – von oben nach unten


Jenseits eines möglich großen Vorrats an gemeinsamen Wertvorstellungen setzt gesellschaftlicher Zusammenhalt voraus, dass die Bürger dem Staate geben, was des Staates ist. Mit Gesetzen allein lässt sich eine eher auf Konsens denn auf ständigen Konflikt ausgerichtete Gesellschaft nicht erreichen. Dazu bedarf es der Einstellung des Einzelnen, seinen Beitrag zum Gemeinwohl zu leisten. Das heißt ganz schlicht: Regeln und Gesetze einhalten, seine Steuern und Abgaben zahlen, nicht schwarz arbeiten und auch selbst keine Schwarzarbeiter beschäftigen, keine staatlichen Leistungen erschleichen – weder Subventionen noch Transferzahlungen.


Politiker aus dem linken Spektrum fordern stets mehr Solidarität. Das verstehen sie und ihre medialen Claqueure rein materiell: Die „Reichen“ müssten mehr – noch viel mehr – abgeben zugunsten derer, die weniger haben. Linksgrüne Solidarität besteht aus einem großzügigen Sozialstaat und möglichst einschneidender Umverteilung. Nun wird hierzulande bereits kräftig umverteilt. Die oberen 15 Prozent der Steuerpflichtigen mit Jahreseinkünften von 86.000 Euro und mehr zahlen 66 Prozent des Gesamtaufkommens an der Lohn- und Einkommensteuer. Natürlich nicht freiwillig, denn die ständig eingeforderte Solidarität wird ja vom Staat erzwungen. Gleichwohl: Es wird kräftig umverteilt – und zwar von oben nach unten.


Solidarität ist keine Einbahnstraße


Diese Form der Zwangs-Solidarität trägt zweifellos zum gesellschaftlichen Zusammenhalt bei. Doch ist Solidarität keine Einbahnstraße. Wer – aus welchen Gründen auch immer – ganz oder teilweise auf Kosten des Staates, also der Steuerzahler lebt, kann das nicht als Freifahrtschein für ein von anderen bezahltes Leben betrachten. Solidarisches Handeln verlangt von allen, ihren Beitrag zu leisten. Der muss darin bestehen, dass sich niemand auf Dauer im staatlichen Fürsorgesystem einrichtet. Konkret: Der Bezug von Bürgergeld entbindet die Nutznießer dieser Transferleistung nicht von einem eigenen Solidaritäts-Beitrag: dem Bemühen, finanziell so schnell wie möglich wieder auf eigenen Beinen zu stehen.


Genau diese Vorstellung läuft den Intentionen von Rot-Grün zuwider. Nicht der selbständige, sein Leben gestaltende Bürger ist ihr Ideal, sondern der Sozialstaats-Untertan. Der nimmt entgegen, was Vater Staat ihm auf Kosten der arbeitenden Mehrheit gewährt – und zeigt sich am Wahltag dankbar, indem er das Kreuz an der richtigen Stelle macht. Das Bürgergeld, als nahezu bedingungsloses „Grundeinkommen light“ konzipiert, entspricht dieser Vorstellung. Schon die Wortwahl soll signalisieren, dass Bürgergeld und Bürgerrechte zwei Seiten derselben Medaille sind.


Der betreute Mensch als linksgrünes Ideal


Die Grünen als Partei des gehobenen Mittelstandes treffen damit den gutmenschlichen Nerv vieler ihrer Wähler. Die SPD hat dagegen Pech. Ihre Kernklientel, die Facharbeiter und Angestellten, haben keine Lust, sich mit denen – finanziell – zu solidarisieren, die sich in ihrer Rolle als „Angestellte“ des Sozialsystems ganz gut eingerichtet haben. Das bekommen die Genossen bei jeder Wahl schmerzhaft zu spüren. Wenn mehr Arbeiter bei der AfD ihr Kreuz machen als bei der „Arbeiterpartei“ SPD, müssten die Genossen eigentlich merken, dass sie mehr falsch als richtig machen.


Machen wir uns nichts vor: Mit strengeren Regeln für den Bürgergeldbezug und härteren Sanktionen für Bezieher, die sich trickreich um eine reguläre Arbeit drücken, lassen sich die Haushaltsprobleme nicht lösen. Aber ein Wechsel vom Bürgergeld zu einem neuen „Hartz V“ könnte bei den Finanziers des Sozialstaates, also der arbeitenden Mitte, dem Gefühl entgegenwirken, der Fiskus schaue bei den Steuerzahlern genauer hin als der Sozialstaat bei der Verteilung von gut 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts nach teilweise sehr fragwürdigen Kriterien. Gesellschaftlicher Zusammenhalt hängt nicht von der Höhe des Sozialetats ab. Mindestens ebenso wichtig ist, dass Steuer- und Beitragszahler das Gefühl haben, sie würden fair behandelt – zumindest fairer als zurzeit.


Unser Gastautor

Dr. Hugo Müller-Vogg, ehemaliger F.A.Z.-Herausgeber, zählt zu den erfahrenen Beobachtern des Berliner Politikbetriebes. Als Publizist und Autor zahlreicher Bücher analysiert und kommentiert er Politik und Gesellschaft. www.hugo-mueller-vogg.de und www.facebook.com/mueller-vogg

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