Gedanken, Anmerkungen und Beobachtungen mit dem Blick aufs Land und zurück auf diese Woche
Liebe Leserinnen und Leser,
Brüssel mag für viele von uns kilometermäßig noch so entfernt sein – politisch ist es gerade dem ländlichen Raum sehr nahe. Entscheidungen, die auf EU-Ebene fallen, beeinflussen maßgeblich das Leben und die Zustände im ländlichen Raum. Umso wichtiger, wer in Brüssel politisch an den Schaltstellen der Macht sitzt. Vor diesem Hintergrund kommt der jüngsten Abstimmung über das Amt des Kommissionspräsidenten größte Bedeutung zu. Bis zuletzt blieb unklar, ob Ursula von der Leyen es erneut schaffen würde. Am Ende ist sie dann doch mit recht komfortabler Mehrheit ein zweites Mal für fünf Jahre zur Kommissionspräsidentin gewählt worden. Sie stützt sich auf 401 von 719 Stimmen, die von Christdemokraten, Sozialisten, Liberalen und recht geschlossen auch von den Grünen kamen.
Von der Leyen sicherte sich die Wahl, indem sie allen Lagern etwas versprach. An die Wähler von CDU/CSU ging unter anderem die Zusage, für auskömmliche Löhne in der Landwirtschaft zu sorgen, berichtet unser Autor Ludwig Hintjens aus Brüssel. Außerdem versprach sie den Unternehmen Bürokratieabbau. Die Sozialdemokraten freuen sich über die Zusage, dass es einen Kommissar für Wohnungsbau geben soll, der die Wohnungsnot bekämpfen soll. Den Liberalen war wichtig, dass von der Leyen einen Verteidigungskommissar beruft und die Verteidigungsausgaben massiv erhöht. Die Grünen sind zwar nicht Teil der informellen Koalition, wurden aber bei Absprachen zum Personal eingebunden. Sie freuen sich über das Ziel, bis 2040 den CO₂-Ausstoß um 90 Prozent zu reduzieren.
Doch zurück zum ländlichen Raum hier in Deutschland, wo unseren Autoren und mir das Thema Hege und Jagd besonders am Herzen liegt. Ein Beispiel ist die Sorge um das Wohlergehen von Rotwild. Gesetzlich eng beschränkte Lebensräume sowie eingezäunte Autobahnen, Kanäle mit steilen Spundwänden und andere Hindernisse machen die traditionellen Wanderkorridore für das Rotwild unpassierbar. Ihm droht die Inzucht und ein schleichendes Aus. Wildbiologen und Ökologen warnen vor der Verinselung und der daraus resultierenden genetischen Verarmung, die die dauerhafte Fortexistenz unserer größten Hirschart in Deutschland bedroht. Am kommenden Dienstag beschreibt ein Blogbeitrag unseres Autors Christoph Boll die Krise der Hirsche, deren Röhren in der herbstlichen Brunft ein imponierendes Naturschauspiel ist. Er gibt zugleich Zuversicht mit dem Verweis auf eine thüringisch-bayerische Kooperation. Dort haben sich in der „Arbeitsgemeinschaft Rotwild Rhön“ Freunde des Edelwildes zusammengefunden, die erstmals über Bundesländergrenzen hinweg die Isolation von Rotwildpopulationen aufbrechen wollen. Sie dürfen gespannt auf den Artikel sein!
Angriffe auf Touristen
Während über den Schutz und die Zukunft von Rotwild in Deutschland bislang leider noch viel zu wenig diskutiert wird, ist das Thema Wolf insbesondere im ländlichen Raum bekanntlich in aller Munde. Wir haben das Öfteren in unserem Blog darüber berichtet. Auch über die möglichen Gefahren für Menschen. Andernorts in der EU ist der Umgang mit gefährlichen Bären ein ebenso großes, wenn nicht gar vom breiten Publikum noch heftiger diskutiertes Thema. So wurde jüngst in der bei Urlaubern beliebten norditalienischen Provinz Trentino ein französischer Tourist von einem Bären angegriffen. Der 43-jährige erlitt Verletzungen an Arm und Beinen. Der Vorfall geschah in dieser Woche nach Angaben der Behörden am frühen Morgen im Wald in der Gemeinde Dro nördlich des Gardasees.
Noch dramatischer ist die Situation in Rumänien. Nachdem eine junge Touristin beim Wandern durch einen Bärenangriff ums Leben gekommen war, hat das dortige Parlament Anfang dieser Woche in einer Sondersitzung die Zahl der jährlich erlaubten Bärentötungen mehr als verdoppelt. Künftig dürfen in Rumänien 481 Braunbären geschossen werden. Im Jahr 2023 waren es noch 220 gewesen. In den Karpaten sollen nach Schätzung der Regierung etwa 8000 Braunbären leben. Dies ist die größte Bärenpopulation in Europa nach Russland. Die Tiere greifen immer wieder Wanderer, Hirten und Bauern an. In den vergangenen 20 Jahren waren in Rumänien nach offiziellen Angaben 26 Menschen von Bären getötet worden.
Auch in der Slowakei ist der Umgang mit Braunbären ein großes Thema. Erst kürzlich war ein Mann beim Wandern von einem Bären attackiert und verletzt worden. Das Tier wurde später aufgespürt und erschossen. Wie mittlerweile bekannt wurde, waren im Mai in der Slowakei innerhalb von 17 Tagen 16 Bären getötet worden. Die Regierung hatte zuvor die Regeln für den Abschuss der Tiere im Schnellverfahren gelockert. „Diese Überpopulation, die wir jetzt erleben, ist das Ergebnis jahrelanger Untätigkeit – ein absolutes Versagen des Staates“, erklärte Umweltminister Tomas Taraba. „Ein Bürger der Slowakei hat das Recht, dass der Staat sein Leben schützt und seinen Besitz. Er hat auch das Recht, Pilze zu sammeln.“ Heftige Kritik kommt von Umweltvertretern. Aus ihrer Sicht ist die Zahl von landesweit 1300 Tieren relativ stabil und nicht wirklich das Problem, weil angeblich zu wenig über Prävention, sondern nur noch von Abschuss geredet werde.
Bahn weiter auf dem Abstellgleis
Apropos Umweltvertreter. Hierzulande ist deren Hauptanliegen aktuell die Energie- und Verkehrswende. Wir haben in unserem Blog das Thema immer wieder kritisch und analytisch aufgegriffen. Dies gilt auch für den Streitpunkt Bahn – ein Verkehrsmittel, das von vielen immer noch als Allheilmittel der Verkehrswende gepriesen wird. Doch im ländlichen Bereich klingt das vielerorts wie Hohn. Dort gibt es zu wenige Bahnhöfe und die Züge fahren obendrein viel zu selten. Hier ist die Politik gefordert. Denn vom Unternehmen selbst ist wenig Änderung geschweige denn Gutes zu erwarten. Es hat sich gerade in den Tagen der Fußball-EM, als ganz Europa auf Deutschland schaute, wieder einmal nach Kräften blamiert. Auch die ausländischen Fußballfans mussten jetzt hautnah erleben, wie marode die Infrastruktur in Deutschland teilweise bereits geworden ist. Wer unter diesen Umständen im ländlichen Raum aktuell Bahn und Bus als eine für jedermann sinnvolle Alternative anpreist, erweist sich als reichlich weltfremd.
Gleichwohl möchte Bundesverkehrsminister Volker Wissing nun Nägel mit Köpfen machen. In dieser Woche hat er das ehrgeizigste Projekt zur Modernisierung der Bahn seit Jahrzehnten gestartet. So wird die vielbefahrene Strecke zwischen Frankfurt am Main und Mannheim für fünf Monate komplett gesperrt, um sie von Grund auf zu erneuern. Die Sanierung weiterer 40 stark befahrener Korridore soll in den nächsten Jahren erfolgen. So überfällig diese Erneuerungen auch sein mögen: Sie werden wohl kaum den ganz großen Erfolg bringen. Denn zu Recht weist der Fahrgastverband Pro Bahn darauf hin, dass die Probleme nicht nur beim Netz, sondern auch im Zustand der Fahrzeuge liegen. Verspätungen würden in sehr vielen Fällen entstehen, weil technische Mängel die Züge lahmlegen.
Gewaltiger Aufwand
Auch erfordern die Modernisierungen einen gewaltigen personellen und materiellen Aufwand. Diese Kapazitäten fehlen notgedrungen an anderer Stelle. Und wo? Vermutlich im ländlichen Raum, weil da die Fahrgastzahlen niedriger liegen und die dortigen Menschen dem Verkehrsmittel Bahn ohnehin schon lange nicht mehr vertrauen. Die Ausdünnung von Fahrplänen jenseits der Metropolen dürfte deshalb weitergehen.
Auch beim Ausbau von Nebenstrecken und der Aktivierung stillgelegter Strecken gibt es reichlich Handlungsbedarf. Denn schon jetzt ist das Schienennetz in Deutschland laut Ifo-Institut 15.000 Kilometer kleiner als vor 70 Jahren. Auch hier ist der ländliche Raum naturgemäß der Hauptleidtragende. Das heißt im Umkehrschluss: Wer dort lebt, ist zwingend auf ein Auto angewiesen. Das muss in der Politik in Sachen Steuer- und Abgabenbelastung stärker beachtet werden.
Ich wünsche Ihnen eine gute, positive Woche und verbleibe mit den besten Grüßen
Ihr Jürgen Wermser
Redaktionsleitung/Koordination
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